Die Ursachen der Myalgischen Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) sind noch nicht vollständig bekannt. Eine kurative Therapie steht daher nicht zur Verfügung. Die bisher vorliegenden Erkenntnisse unterstützen eine interdisziplinäre symptomorientierte Behandlung.
Schwer an ME/CFS Erkankte sind bettlägrig und leiden oft an ausgeprägter Reizempfindlichkeit. Foto: Deutsche Gesellschaft für ME/CFS
Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) ist eine komplexe und chronische Erkrankung mit noch unvollständig geklärter Ursache. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) klassifiziert sie als neurologische Erkrankung (ICD-10 G93.3). Auslöser sind meistens Infektionserkrankungen wie das Pfeiffersche Drüsenfieber, Influenza oder die Coronaviruserkrankung 2019 (COVID-19). ME/CFS gehört daher auch zum Spektrum des Post-COVID-Syndroms (PCS).
Hauptsymptom ist eine ausgeprägte Belastungsintoleranz mit einer oft versetzt eintretenden und lange anhaltenden Verschlechterung aller Symptome nach Alltagsaktivitäten. Weitere typische Symptome sind Fatigue, Schmerzen, neurokognitive Einschränkungen sowie Schlaf- und Kreislaufstörungen. Die Vielzahl an Symptomen erfordert eine interdisziplinäre Diagnostik und eine multiprofessionelle Versorgung der oft schwer kranken Patientinnen und Patienten.
Die Erkrankung erkennen
In manchen Ländern ist die Erkrankung besser als ME bekannt. In der internationalen Literatur hat sich das Doppelakronym ME/CFS durchgesetzt (1, 2). In Deutschland ging man nach einer Studie des Bundesministeriums für Gesundheit aus dem Jahr 1993 von einer Prävalenz von 0,3% aus. Eine aktuelle Studie aus Deutschland, die Krankenkassendaten von fast 30 Millionen Versicherten ausgewertet hat, zeigt für 2020 eine Inzidenzrate für ME/CFS von 0,2% bei Versicherten ohne und von 0,6% mit vorangegangener COVID-19 (3). Das Haupterkrankungsalter liegt bei 15–40 Jahren. Frauen erkranken etwa doppelt so häufig wie Männer. Im Kindes- und Jugendalter sind überwiegend ältere adoleszente Mädchen betroffen (1, 2). Die Erkrankung beginnt meist im Anschluss an eine Infektion. Auch ein Halswirbelsäulentrauma oder eine Operation können ME/CFS triggern. Manchmal beginnt die Symptomatik episodisch oder schleichend (1, 2).
Charakteristisch für ME/CFS ist eine ausgeprägte Belastungsintoleranz (Grafik). Meist noch am Folgetag nach einer oft nur leichten Anstrengung zeigt sich eine Symptomverschlechterung, die sogenannte post-exertionelle Malaise (PEM). Sie kann um Stunden oder auch über Nacht versetzt auftreten und tage-, wochen- bis monatelang anhalten (1, 2). Die namensgebende Fatigue beeinträchtigt den Alltag, bessert sich kaum durch Ausruhen und geht oft mit muskulärer Schwäche einher. Schmerzen sind variabel ausgeprägt mit Muskel-, Kopf- sowie seltener Gelenkschmerzen. Manche Patienten haben generalisierte Schmerzen wie bei einer Fibromyalgie. Bei den Konzentrations- und Gedächtnisproblemen stehen Wortfindungsstörungen, Verlangsamung im Denken („Gehirnnebel“, brain fog) und die Unfähigkeit, sich längere Zeit zu konzentrieren, im Vordergrund. Trotz der Fatigue liegen meist schwere Schlafstörungen vor, typischerweise mit Verschiebung des Tag-Nacht-Rhythmus. Gemäß Diagnosekriterien ist der Schlaf nicht erholsam (2, 4).
Grafik
Die Hauptsymptome von ME/CFS
Häufig bestehen Symptome einer autonomen Dysfunktion, die sich als orthostatische Intoleranz (OI) mit Schwindel beim Aufrichten, Tachykardie, Atembeschwerden, Mundtrockenheit, Temperaturempfindlichkeit, Reizdarm oder Reizblase äußern können. Typisch für die Erkrankung ist auch die Überempfindlichkeit gegenüber Licht und Lärm, manchmal auch Gerüchen. Schwer Betroffene sind meist bettlägerig, können kaum Gespräche führen und benötigen eine abgedunkelte, geräuscharme Umgebung. Neben oft rezidivierenden infektionsähnlichen Symptomen wie Halsschmerzen, schmerzhaften Lymphknoten und subfebrilen Temperaturen leiden viele Betroffene auch unter einer Häufung von Infektionserkrankungen oder neu aufgetretenen beziehungsweise zunehmenden Allergien und/oder Nahrungsmittelunverträglichkeiten. Infektionserkrankungen verlaufen oft protrahiert und können eine PEM auslösen.
Als eigenständige klinische Entität ist ME/CFS gegenüber der chronischen Fatigue abzugrenzen, die bei ganz unterschiedlichen Erkrankungen wie Depression, Krebs oder Autoimmunerkrankungen als häufiges Symptom auftreten kann.
ME/CFS wird bislang über die klinische Symptomatik definiert, es existieren unterschiedliche Diagnosekriterien. Für die Diagnosestellung werden die Kanadischen Konsensus-Kriterien (CCC) von 2003 vom Europäischen ME/CFS-Netzwerk EUROMENE empfohlen (4). Obligat sind Fatigue, Schlafstörung, Schmerzen und neurokognitive Einschränkungen sowie 2 von 3Symptomen aus dem autonomen, neuroendokrinen und/oder immunologischen Symptomkomplex. Das Leitsymptom ist die PEM, die gemäß den CCC meist noch am nächsten Tag (nach 24 Stunden) besteht. Es hat sich gezeigt, dass eine PEM von mindestens 14 Stunden am besten diskriminiert zwischen ME/CFS und anderen mit Fatigue einhergehenden Erkrankungen (5).
Für die Praxis eignen sich auch die SEID-(Systemic Exertion Intolerance Disease-)Kriterien des Institute of Medicine (IOM) (2). Die SEID-Kriterien fordern PEM (ohne Angabe zur Dauer), Fatigue und nicht erholsamen Schlaf sowie OI oder kognitive Störungen. Diese Diagnosekriterien finden sich auf der Website des Charité Fatigue Centrums (http://daebl.de/EF63) in deutscher Übersetzung. Auch nach COVID-19 tritt ME/CFS auf, wobei ein Teil der Erkrankten nur die SEID-, aber nicht die CCC-Kriterien erfüllt, meist aufgrund einer kürzeren PEM (6). Möglicherweise liegen der langen und kurzen PEM unterschiedliche Krankheitsmechanismen zugrunde. Weil PEM nicht obligat gefordert wird, werden die Fukuda-Kriterien sowie die noch breiteren Oxford-Kriterien nicht mehr empfohlen (2, 4). Bei Kindern und Jugendlichen bieten sich neben den CCC- und SEID/IOM-Kriterien altersadaptierte Kriterien an.
Schwierige Diagnose
ME/CFS lässt sich erst diagnostizieren, wenn die Symptome ohne Besserungstendenz länger als 6 Monate bei Erwachsenen beziehungsweise 3 Monate bei Kindern und Jugendlichen bestehen. Ein deutscher Fragebogen (MBSQ), der CCC, SEID/IOM-Kriterien und pädiatrisch adaptierte Scores umfasst, kann bei der Autorengruppe angefordert werden. Mit speziellen Fragebögen kann die Schwere der Fatigue (Fatigue Severity Scale, Chalder Fatigue Scale), der PEM sowie die Einschränkung der Funktionsfähigkeit (Bell-Skala) (http://daebl.de/EF63) bestimmt werden. Die Fatigue ist oft auch muskulär und lässt sich mit einem Handdynamometer messen (siehe Abbildung 1) (7). Klinisch fällt oft das blasse, bei Schwerkranken manchmal auch leicht geschwollene Gesicht auf. Die Hände können kalt, die Finger und Füße blau (Raynaud-Phänomen), die Haut schwitzig sein.
Die verminderte Handkraft kann mit einem Dynamometer gemessen werden. Foto: Carmen Scheibenbogen
Als Krankheitsauslöser findet sich bei jungen Erkrankten häufig eine symptomatische Erstinfektion mit dem Epstein-Barr-Virus (EBV), das Pfeiffersche Drüsenfieber. Eine aktive EBV-Infektion mit Virusnachweis mittels Polymerasekettenreaktion (PCR) zeigt sich jedoch im Verlauf selten. Inzwischen gilt COVID-19 weltweit als der häufigste Trigger für ME/CFS (3, 6). Bei vielen Betroffenen ist der Erreger der auslösenden Infektionserkrankung jedoch unbekannt. Am häufigsten wird über Atemwegsinfektionen, seltener über Magen-Darm-Infektionen berichtet. Auch schwere Reaktivierungen von Herpes simplex oder bakterielle Infektionen können ME/CFS auslösen.
Es gibt bislang keinen spezifischen diagnostischen Marker. C-reaktives Protein und Organfunktionsparameter sind bei ME/CFS-Betroffenen meist nicht verändert. Die Laboruntersuchung dient daher vor allem der Differenzialdiagnostik sowie der Erfassung von Komorbiditäten und Mangelzuständen. Ein Immunglobulin- oder ein Mannose-bindendes-Lektin-(MBL-)Mangel finden sich häufiger (6, 8).
Interdisziplinär abklären
Abhängig von der Symptomatik sollte eine ergänzende Diagnostik zum Ausschluss anderer Erkrankungen erfolgen. Über eine Reizdarmsymptomatik berichten viele Patienten. Der Koloskopiebefund ist jedoch bei ME/CFS fast immer unauffällig. Die Abklärung einer chronisch entzündlichen Darmerkrankung oder Zöliakie wird daher nur bei anhaltenden Durchfällen und Gewichtsverlust empfohlen. Autoimmunerkrankungen treten bei den Betroffenen und in deren Familien gehäuft auf. Eine begleitende Hashimoto-Thyreoiditis findet sich bei 10–20% und antinukleäre Antikörper (ANA) sind bei etwa 20% erhöht (6). Bei erhöhten ANA erfolgen eine weitere Abklärung mittels eines Screenings auf Antikörper gegen extrahierbare nukleäre Antigene (ENA) und, falls positiv, eine rheumatologische Diagnostik. Bei Sicca-Symptomatik sollte ein Sjögren-Syndrom ausgeschlossen werden.
Eine neurologische Abklärung ist bei fokalneurologischer Symptomatik indiziert, wie sensiblen oder motorischen Ausfällen, deutlichen kognitiven oder sprachlichen Beeinträchtigungen. Aber auch bei Schmerzen (neuropathischem Schmerz, schmerzhaften Missempfindungen, Kopfschmerzen) ist eine neurologische Vorstellung zu Diagnostik und Mitbetreuung sinnvoll. Um die Belastung der Betroffenen so gering wie möglich zu halten, bietet sich ein gestuftes diagnostisches Vorgehen an, mit gezielten Screening-Untersuchungen zur umfassenden Erstevaluation.
Werden schwere kognitive Einschränkungen angegeben, lassen sich diese zum Beispiel mit dem Montreal-Cognitive-Assessment- (MoCA-)Test objektivieren (9). Bei auffälligem Ergebnis folgt ihm eine umfassende neuropsychologische Diagnostik. Sie dient dazu, das Defizit hinsichtlich der betroffenen Bereiche (Aufmerksamkeit, Gedächtnis, Exekutivfunktionen, Sprache) und des Schweregrades zu erfassen, aber auch als Grundlage für einen individuellen Behandlungsplan. Besonders bei neuropathischen Schmerzen, Kribbelparästhesien, Temperaturwahrnehmungsstörung und/oder Hinweisen auf autonome Dysfunktion sollte auch bei normalen Neurografiebefunden eine Small-Fiber-Neuropathie (SFN) abgeklärt werden. Diese kann einer Fallserie mit 160 ME/CFS-Patienten zufolge bei 30% der Betroffenen auftreten (10).
Die CCC- und SEID-Kriterien fordern explizit den Ausschluss einer schlafbezogenen Atemstörung sowie eines Syndroms der unruhigen Beine (Restless Legs Syndrome, RLS) und empfehlen die Behandlung begleitender schlafmedizinischer Erkrankungen (2, 4). Die generell häufigsten schlafmedizinischen Erkrankungen sind die chronische Insomnie, die obstruktive Schlafapnoe und das RLS. Es gibt nur wenige Studien, die ME/CFS-Betroffene im Schlaflabor polysomnografisch untersuchten, und daher fehlen repräsentative Daten über die Prävalenz der genannten schlafmedizinischen Erkrankungen bei ME/CFS (11).
Die meisten Patientinnen und Patienten mit ME/CFS berichten über eine OI (12). Das Posturale Orthostatische Tachykardiesyndrom (POTS) ist eine häufige Form der OI, die besonders bei jungen Frauen und etwa 25% der ME/CFS-Betroffenen vorkommt (13). Kennzeichen sind mindestens 3 Monate bestehende lageabhängige Beschwerden wie Schwindel, Übelkeit, Benommenheit oder Sehstörungen sowie ein gegenüber dem Mittelwert im Liegen (für 5 Minuten) anhaltender (mindestens 2 aufeinanderfolgende Werte) Herzfrequenzanstieg um mindestens 30 Schläge/Minute (40 Schläge/Minute bei 12–19-Jährigen) oder auf mindestens 120 Schläge/Minute während 10-minütiger Stehzeit ohne begleitende orthostatische Hypotonie. Die Diagnose POTS lässt sich somit stellen nach:
- gezielter Anamnese typischer Beschwerden,
- Ausschlussdiagnostik, etwa Echokardiogramm (EKG), Herzultraschall, Langzeit-EKG, und
- einem 10-minütigen Stehtest mit minütlicher Aufzeichnung von Herzfrequenz und Blutdruck oder einer Kipptischuntersuchung.
Im Vorfeld einer rehabilitativen Therapie empfiehlt sich eine gründliche körperliche Untersuchung, insbesondere unter manual-medizinischen Gesichtspunkten. Dabei spielen muskuläre Triggerpunkte, muskuläre Dysbalancen, fasziale Veränderungen, Befunde verminderter Tiefenstabilität sowie funktionelle Störungen der Atmung eine besondere Rolle.
Symptomorientiert behandeln
Trotz der chronischen Erkrankung, die viele Patientinnen und Patienten in ihrer Existenz bedroht, sind die meisten Betroffenen primär nicht depressiv und hoch motiviert für alle verfügbaren Behandlungsoptionen. Die Diagnose ME/CFS ist manchmal nicht sicher zu stellen beziehungsweise abzugrenzen, wenn die Krankheit nicht mit einer Infektion begonnen hat oder Begleiterkrankungen mit ähnlichen Symptomen vorliegen. Im Kindes- und Jugendalter ist eine sorgfältige psychologische oder kinder- und jugendpsychiatrische Evaluation durch ME/CFS-erfahrene Ärzte und Ärztinnen zu empfehlen, um Krankheiten aus diesem Fachgebiet auszuschließen oder Komorbiditäten zu erfassen.
Die gezielte Behandlung von Komorbiditäten trägt zur Symptomreduktion bei und verbessert die Lebensqualität der Betroffenen. Unter einer guten ärztlichen Betreuung, verbunden mit Selbstmanagement und sozialmedizinischer Unterstützung, kann sich eine moderate Besserung einstellen. Eine Ausheilung ist bei Erwachsenen selten, bei Kindern und Jugendlichen dagegen häufig (15).
Wesentliches Element des Selbstmanagements ist das Pacing. Die Aktivität wird so begrenzt und über den Tag verteilt, dass keine Überlastung mit PEM beziehungsweise Symptomverschlechterung auftritt. Die Belastungsgrenze ist individuell unterschiedlich und kann über die Zeit fluktuieren. Während leichter Erkrankten mit Einschränkungen noch Schule oder Berufstätigkeit möglich ist, können Schwersterkrankte bereits durch einfachste Aktivitäten oder Reize (Körperhygiene oder Gespräche) PEM erleiden.
Das Erlernen und Umsetzen von Pacing stellen eine große Herausforderung dar. Informationsmaterial hat die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS erstellt (http://daebl.de/QY41). Eine gestufte Aktivierungstherapie (GET) wird nicht empfohlen (16). Entspannungstechniken sind ein wichtiger Baustein, um Stress abzubauen, der PEM auslösen kann. Im Falle einer ausgeprägten OI kann allein das Aufrichten zu PEM führen. Bei der oft bestehenden sensorischen Überempfindlichkeit können Schallschützer, Raumverdunklung und/oder Sonnenbrillen helfen.
In der Behandlung der fast immer bestehenden Schlafstörungen sind 2–5 mg Melatonin oft wirksam. Antihistaminika der 1. Generation können das Einschlafen unterstützen. Niedrig dosierte Antidepressiva (Trimipramin, Mirtazapin) kommen bei schwereren Schlafstörungen zum Einsatz.
Zur Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit kann Ergotherapie eingesetzt werden. Eine Psychotherapie kommt im Sinne einer unterstützenden Behandlung infrage. Mild oder moderat Betroffenen kann eine kognitive Verhaltenstherapie (CBT) angeboten werden (16). Dies gilt auch für eine depressive Begleitsymptomatik infolge der belastenden Symptomatik und der eingeschränkten Lebensqualität. Eine leitliniengerechte antidepressive Medikation sollte dann in Erwägung gezogen werden.
Die Therapie von POTS und Hypotonie kann eine Erhöhung der Trinkmenge auf 2–3 l/Tag sowie der Salzzufuhr auf 8–10 g/Tag, das Tragen von Kompressionsstrumpfhosen Klasse II und/oder einer abdominellen Leibbandage sowie, wenn möglich, ein regelmäßiges Training der Bein- und Bauchmuskulatur und bei schweren Formen einen Rollstuhl umfassen (13).
Es fehlt an randomisierten, kontrollierten Studien zur medikamentösen Therapie, sodass diese auf Grundlage von Expertenempfehlungen und off-label erfolgt (13). Hierbei sollte immer mit der niedrigsten Dosis gestartet werden, geringe Dosen reichen oft aus. Zu den Medikamenten gehören Midodrin, Fludro- oder Hydrocortison, Ivabradin und Pyridostigmin. Letzteres wirkt sich häufig nicht nur positiv auf die Tachykardie, sondern auch auf die muskuläre Schwäche und eventuell auf begleitende Obstipationen oder Blasenentleerungsstörungen aus, die den Einsatz aber auch limitieren können.
Bei Schmerzen kommen primär die Analgetika Ibuprofen, Paracetamol, Metamizol und/oder Pregabalin oder Gabapentin zum Einsatz. Auch eine vorsichtige manuelle Therapie oder transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) können hilfreich sein. Bei Allergien, Schleimhautreizungen und Nahrungsmittelunverträglichkeiten sind H1-Antihistaminika der 3. Generation oft nützlich. Mangelzustände (Eisen, Vitamin D/B, Folsäure) sind auszugleichen. Es gibt Hinweise auf mögliche positive Effekte von Ginseng und Minocyclin sowie niedrig dosiertem Aripiprazol (LDA) und Naltrexon (LDN), die jedoch off-label eingesetzt werden müssen (17, 18, 19, 20).
Bei einem akuten Krankheitsschub (PEM) sind viel Ruhe und die Berücksichtigung der sensorischen Überempfindlichkeit wichtig. Der Kreislauf sollte durch eine ausreichende Trinkmenge und Salzzufuhr, gegebenenfalls als Infusion, unterstützt werden. Lorazepam für maximal 3 Tage kann helfen. Temperaturschwankungen sollten vermieden werden, um zusätzliche Energieverluste zu verhindern. Falls die Betroffenen zum Essen zu schwach sind, bietet sich überbrückend eine kalorienreiche Trinknahrung an. Bestehen die Symptome länger als 2–3 Tage oder sind sie ungewöhnlich, sollten andere akute Ursachen ausgeschlossen werden.
Schwerstbetroffene therapieren
Schwersterkrankte sind bettlägerig und oft extrem empfindlich gegenüber Licht und Geräuschen, manchmal auch Berührung. Der Grad der Behinderung (GdB) beträgt 100%, meist besteht ein Pflegegrad von 4 oder 5. Behandlung und Versorgung stellen eine große Herausforderung dar. Zu Schwersterkrankten mit ME/CFS gibt es kaum Studiendaten. Die ME Association UK und ein Übersichtsartikel liefern praktische Informationen (21). Oft sind die Patienten auf eine Unterstützung bei der Ernährung und Körperhygiene angewiesen. Mitunter sind Sondennahrung und intravenöse Flüssigkeitszufuhr notwendig. Ein Rollstuhl mit Elektroantrieb kann eine Fortbewegung ermöglichen.
Hausbesuche dienen der regelmäßigen Evaluation des Krankheitsverlaufs und einer Behandlung von Schmerz, Schlaf- und Kreislaufstörungen, aber auch Übelkeit oder sekundärer Depression. Bei der Behandlung von Schmerzen und Immobilität kann eine sehr vorsichtige manuelle Therapie hilfreich sein. Eine stationäre Diagnostik bedarf wegen der ausgeprägten Reizempfindlichkeit besonderer Anpassungen und ist kaum verfügbar.
ME/CFS stellt eine Herausforderung dar, denn es gibt bisher keine befriedigende Therapieoption und meist keinen Zugang zu den wenigen spezialisierten medizinischen Einrichtungen. Der hausärztliche Aufwand ist hoch. Aber das hausärztliche Umfeld bietet auch besondere Chancen. Die Betroffenen sind mit ihren Begleiterkrankungen und ihrem sozialen Umfeld in der hausärztlichen Praxis gut bekannt. Schon die Klärung und Anerkennung der Diagnose ME/CFS stellt für sie und ihre Angehörigen eine wertvolle Unterstützung dar. Bei Kenntnis des Krankheitsbilds können die Weichen für eine sinnvolle Diagnostik und bestmögliche symptomorientierte Therapie gestellt und damit Schaden und Kosten vermieden werden.
Lokale Netzwerke bilden
Um bei Bedarf die häusliche Versorgung zu unterstützen und den Erfahrungsaustausch zu fördern, sind auf ME/CFS spezialisierte, multiprofessionelle und interdisziplinäre lokale Netzwerke sinnvoll. In diesen Netzwerken können sich auch Praxen etablieren, die einen Schwerpunkt auf die Diagnose und Behandlung von ME/CFS und Post-COVID legen. Ein Schwerpunkt der Netzwerkarbeit muss neben der medizinischen Versorgung in einer bestmöglichen Aufrechterhaltung der sozialen Teilhabe liegen.
Moderne Ansätze, die zur effizienteren und wirkungsvolleren Versorgung von ME/CFS führen, sind erforderlich. Hierzu zählen, neben der pharmakologischen Therapie, eine strukturierte Anamneseerhebung, die Vermittlung des relevanten Wissens an Betroffene und Angehörige in Form von Gruppenschulungen sowie moderierte Social Media Communities zur Förderung des Erfahrungsaustausches und der Etablierung sozialer/emotionaler Supportstrukturen.
Derzeit sehen wir im hausärztlichen Bereich eine steigende Anzahl von Patientinnen und Patienten mit anhaltenden Beschwerdebildern nach COVID-19. Es ist deshalb dringend notwendig, passende Konzepte und Strukturen aufzubauen, um die Betroffenen, ihre Angehörigen und ihre Behandlungsteams zu unterstützen.
Eine Rehabilitation muss die befund- und symptomorientierte Therapie und das Erlernen von Strategien zum Krankheitsmanagement zum Ziel haben. Rehabilitative Interventionen im ambulanten wie stationären Setting sollten reduziert und flexibilisiert werden und Einzelanwendungen, wie manuelle und Atemtherapien, enthalten. Die Vielfalt der Symptome erfordert eine personalisierte Betreuung im interprofessionellen Team. Um PEM zu vermeiden, können körperliche Übungen auch im Liegen durchgeführt werden (22). Maßnahmen der medizinisch-beruflich orientierten Rehabilitation sollten Anregung von flexiblen Arbeitsbedingungen und Homeoffice enthalten, um eine Teilhabe am Berufsleben zu ermöglichen, und Versorgungsaspekte mit einbeziehen. Etwa ein Viertel der ME/CFS-Erkrankten ist noch (teilweise) berufstätig (23).
Individuelle Umstände, die zu Stresssituationen führen, können eine Verschlechterung auslösen und müssen in der Rehabilitation erkannt werden. Der Umgang mit einer chronischen, oft stark beeinträchtigenden Erkrankung bedarf einer besonderen Unterbringung und Anpassung des Rehaalltags, oft psychologischer Unterstützung sowie des Erstellens von realistischen Zielen für die Betroffenen, um eine bessere Lebensqualität und Teilhabe am Leben zu ermöglichen.
Symptomorientierte Versorgung
Solange kurative Therapieansätze für ME/CFS fehlen, steht eine optimale symptomorientierte Versorgung im Vordergrund. Die Patientinnen und Patienten sollten zur Diagnosesicherung und Erstellung eines maßgeschneiderten Therapiekonzepts an ortsnahe Spezialambulanzen überwiesen werden können, die jedoch bislang nur an wenigen Universitäten existieren. Vielversprechend ist ein sektorenübergreifendes Behandlungskonzept, welches rasch nach der Diagnosestellung eine stationäre Behandlung in einer spezialisierten Reha- oder Schmerzklinik beinhaltet. Ein solches Konzept wird gegenwärtig in einer vom Innovationsfonds geförderten Studie geprüft (24).
Es gibt inzwischen eine Reihe von Studien, deren Ergebnisse auf Antikörper-vermittelte Autoimmunität und Durchblutungsstörungen als mögliche Pathomechanismen hinweisen (25, 26). Auf dieser Basis müssen dringend Medikamente in klinischen Studien geprüft und möglichst kurative Therapieansätze entwickelt werden. Hierfür ist auch das Engagement von Politik und pharmazeutischer Industrie gefragt. Erste Therapiestudien laufen in der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Nationalen Klinischen Studiengruppe (NKSG) seit Anfang 2023.
Prof. Dr. med. Carmen Scheibenbogen,
Institut für Medizinische Immunologie,
Charité – Universitätsmedizin Berlin
Dr. med. Judith Bellmann-Strobl,
Experimental and Clinical Research Center, Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft and
Charité – Universitätsmedizin Berlin
Dr. med, Anett Reißhauer,
Physikalische Medizin,
Charité − Universitätsmedizin Berlin
Dr. med. Andrea Maier,
Klinik für Neurologie und ANS Ambulanz, Universitätsklinikum RWTH Aachen
PD Dr. med. Christian Veauthier,
Interdisziplinäres Schlafmedizinisches Zentrum, Charité − Universitätsmedizin Berlin
Dr. med. Diego Schmidt,
Praxis für Allgemeinmedizin, Schwerpunkt ME/CFS und Post-COVID-19-Syndrom, Berlin
Prof. Dr. med. Uta Behrends,
MRI Chronische Fatigue Centrum für junge Menschen. Zentrum für Kinder- und Jugendheilkunde, Technische Universität München und München Klinik
Interessenkonflikte: C. Scheibenbogen erklärt, Beraterhonorare von Bayer und Celltrend, Reisekosten und Kongressgebühren vom Ärzteverband Long Covid, Vortragshonorare von den Herstellerfirmen Bayer, BMS, BAAS, Fresenius, Novartis und Roche sowie Forschungsgelder vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG), vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) erhalten zu haben. U. Behrends erklärt, von der Weidenhammer-Zöbel-, der Lost-Voices-Stiftung und der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS Reisekosten, Kongressgebühren, Vortragshonorare und Forschungsgelder sowie vom BMG, BMBF, von den Bayerischen Staatsministerien für Wissenschaft und Kunst sowie für Gesundheit und Pflege sowie vom Deutschen Zentrum für Infektionsforschung Forschungsgelder erhalten zu haben. A. Maier erklärt, Reisekosten von der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS, Deutschen Ehlers-Danlos-Initiative, POTS und andere Dysautonomien e. V. sowie Forschungsgelder von Takeda und POTS und andere Dysautonomien e. V. erhalten zu haben. J. Bellmann-Strobl erklärt, Forschungsgelder von Bayer erhalten zu haben. A. Reißhauer, C. Veauthier und D. Schmidt geben an, dass keine Interessenkonflikte bestehen.
Der Artikel unterliegt keinem Peer-Review-Verfahren.
Literatur und weiterführende Informationen im Internet:
www.aerzteblatt.de/lit2023
oder über QR-Code.
Weiterführende Informationen: Netzwerke, Leitlinien und Patientenorganisationen
- Charite Fatigue Centrum
http://daebl.de/EF63 - The ME Association UK
http://daebl.de/UP84 - US ME/CFS Clinical Coalition
http://daebl.de/GY76 - DEGAM-Leitlinie Müdigkeit
http://daebl.de/PW14 - NICE-Leitlinien ME/CFS
http://daebl.de/EN52 - Deutsche Gesellschaft für ME/CFS
http://daebl.de/QY41 - Fatigatio Bundesverband ME/CFS
http://daebl.de/UA93 - Lost Voices Stiftung
http://daebl.de/QA52 - Long Covid Deutschland
http://daebl.de/WS75 - Schweizerische Gesellschaft für ME/CFS
http://daebl.de/AB76